Von der Schwierigkeit, sich zu wehren

Triggerwarnung (sexuelle Übergriffe)
(Die folgenden Zeilen beschreiben wahre Begebenheiten.)


„Komm, wir gehen damit zur Polizei. Es kann nicht sein, dass die Typen einfach so davon kommen, nachdem sie Dir das angetan haben.“

Ich wollte nicht zur Polizei gehen. Sicher, es wäre schön gewesen, wenn das Bild, was er heimlich von mir gemacht und ins Internet gestellt hat, gelöscht werden würde, um so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit zu erfahren. Oder den Mann anzuzeigen, der damals gegen meinen Willen mit mir geschlafen hat.

Meine beste Freundin, ich nenne sie hier Emmi, stand voll und ganz hinter mir. Mit wehenden Fahnen hätte sie mich zur Polizei und zu allen anderen Terminen begleitet, hätte Händchen gehalten, für mich gesprochen und mit mir gekämpft. Ich weiß, ich wäre nicht allein gewesen.

„Girls support Girls, Kämpfe für dein Recht, wehr Dich, Du bist nicht allein.“

So in etwa waren ihre Worte. Sie war etwas enttäuscht, als ich sagte, dass ich einfach nichts mehr mit der Sache zu tun haben möchte... Es sei ja nicht nur gut für mich, sondern auch für andere Frauen.

Natürlich hat sie mit allem Recht. Dennoch standen für mich andere Faktoren im Weg. Die Angst davor, mich noch mal mit allem auseinander setzen zu müssen. Die Angst davor, dass sie alles leugnen. Davor, dass sie sich über mich lustig machen und mich nicht ernst nehmen. Davor, dass ich mit ihnen in einem Raum sein muss. Davor, dass trotz des Kampfes doch nichts passiert. Davor, dass ich den Kampf verlieren würde und sie erneut die Oberhand gewinnen. Das aufkeimende Ekelgefühl, das mich überkam, wenn ich an alles dachte.
Und so weiter.

Wir beließen es dabei und sie versicherte mir, dass sie jederzeit bereit sei, mich bei dem Weg zu begleiten und zu unterstützen, wenn ich ihn denn irgendwann mal gehen möchte.



Eines Abends, in paar Wochen später, erzählte sie mir, dass ihr Physiotherapeut komisch zu ihr gewesen sei. Er hätte ihr Komplimente gemacht, wie hübsch sie doch sei, und hätte ihr während der Behandlung beiläufig an die Brust gefasst und ihren Hals gestreichelt. Vorher sei das noch nie vorgekommen, sie hätten sich immer nett unterhalten und er sei immer so sympathisch gewesen.

Ich war wütend auf ihn und versicherte ihr, dass ich sie dabei unterstützen würde, wenn sie gegen ihn vorgehen möchte. Eine weitere Freundin, Lena, wurde ebenfalls eingeweiht und auch sie war der Meinung, man müsste etwas unternehmen. Lena war richtig wütend und bereit gewesen, zu ihm zu fahren und ihm eine zu verpassen. Oder an die Öffentlichkeit zu gehen, um ihn an den Pranger zu stellen. Emmi wollte das alles aber nicht.

Sie war bereits gedanklich damit beschäftigt, sich einen neuen Physiotherapeuten zu suchen und nichts zu unternehmen. Auch, wenn sie eigentlich wusste, dass sie etwas tun könnte, waren die Scham und die anderen negativen Gefühle mächtiger. Sie meldete sich nicht mehr bei ihm und erstattete keine Anzeige. Emmi fragte sich, ob sie sich das alles nicht nur eingebildet hätte. Ob sie übertreiben würde. Sie hätte sich ja wehren und ihn in die Schranken weisen können. Sonst wehrt sie sich auch, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlt.
Aber in dem Moment, als es passierte, konnte sie sich nicht bewegen. Sie sei wie erstarrt gewesen, konnte kaum atmen und nicht sprechen.

Emmi ist klug und eine der stärksten Frauen, die ich kenne. Intelligent, gebildet, feministisch, souverän. Und jetzt fragte sie sich plötzlich, ob sie ihm eventuell falsche Signale gesendet hätte. Sie weinte ein bißchen, dann sagte sie, dass sie nichts unternehmen würde und das Thema für sie durch sei. Ich wusste, dass sie dabei gegen ihre eigenen Werte handelte, und das machte es für sie noch schlimmer.

Bald sprachen wir nicht mehr darüber.



Kurz darauf, es waren vielleicht vier, fünf Wochen, erlebte Lena ebenfalls einen unerwarteten Übergriff. Es passierte bei einem Besuch in der Therme. Sie war dort mit einer Freundin und beide ließen sich massieren. Der Masseur fasste ihr, während sie auf dem Bauch lag, zwischen die Beine und berührte sie im Intimbereich. Beiläufig, als sei es Teil der Massage.

Lena erzählte, dass sie bei der ersten Berührung erschrocken war, aber sie dachte, es sei ein Versehen gewesen. Allerdings passierte es erneut, und beim dritten oder vierten Mal war klar, dass es kein Versehen sein konnte.
In dem Moment sagte und tat sie nichts. Die Lena, die bei Emmis Vorfall noch so entschlossen und wütend war, konnte sich im Augenblick des Übergriffs nicht wehren.

Nach dem Besuch in der Therme nahm sie allen Mut zusammen und suchte das Gespräch mit einer Person am Empfang. Sie berichtete ihr von dem Vorfall, nannte seinen Namen und bekam 100€ als Entschädigung.

Es fühlte sich zunächst wie eine Genugtuung an. Sie hatte sich nicht versteckt sondern es gemeldet und sogar Geld bekommen. Später aber überkam sie das Gefühl, abgespeist worden zu sein. 100€ Schweigegeld, um keine weiteren Schritte einzuleiten.

Sie schämte sich und besuchte die Therme nie wieder.



Wir drei haben sexuelle Gewalt erfahren, teilweise mehrmals. Keine von uns hat sich getraut, rechtliche Schritte einzuleiten. Keine von uns war in dem Moment fähig, sich zu wehren. Und wir alle dachten vorher, es sei ganz einfach und natürlich, übergriffigen Menschen Einhalt zu gebieten. Wir dachten, es sei einfach, nein zu sagen.

Der Moment der Starre überkam uns alle. Der Moment, in dem wir bewegungsunfähig wurden und uns kaum trauten zu atmen. Dann die Scham. Das aufkeimende Misstrauen gegen sich selbst und die Frage, ob man nicht etwas hätte anders machen sollen. Ob man es hätte verhindern können.

So objektiv falsch sie auch sein mögen, die Schuldgefühle wird vermutlich jede/r Überlebende/r von sexueller Gewalt kennen. Schuldgefühle sind für eine Weile überlebenswichtig, weil man durch sie die Verantwortung für das Erlebte übernimmt, sich nicht mehr machtlos fühlt und aus der Rolle des Opfers tritt. Das Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins wird abgelöst von dem Gefühl der Schuld. Das perfide daran: Schuldgefühle hindern Betroffene daran, sich zu wehren und rechtliche Schritte einzuleiten.

Niemand, dem sexuelle Gewalt widerfährt, ist selber Schuld daran. NIEMAND.

Ich weiß nicht, was Betroffenen helfen kann, sich zur Wehr zu setzen. Viel Zeit, viel Therapie, ein geschützter Raum? Ich wünschte, es gäbe eine bessere Vernetzung. Mehr Austausch, um zu sehen, wie vielen Menschen es so geht und wie häufig sich die Denk- und Gefühlsmuster ähneln. Wie sie immer wieder die destruktive Richtung einschlagen, obwohl von außen betrachtet die Sache völlig klar ist. Was würdest Du tun, wenn es deiner besten Freundin oder deinem besten Freund passieren würde?



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